30 Jahre
Gespräch mit den Architekten Christine Muller und Burkard Dewey am 17. Juni 2018 in Köln
Aus Anlass des 30-jährigen Bestehens von Dewey Muller blicken Christine Muller und Burkard Dewey auf die lange Geschichte ihrer Zusammenarbeit zurück, sprechen über aktuelle Standpunkte und schauen in die Zukunft. Das Gespräch in den Büroräumen des Architektur- und Stadtplanungsbüros in der Flandrischen Straße im Herzen von Köln führte Ernest Thiesmeier.
»Die Autorenschaft ist ein Wesensmerkmal der Architektur. Wären wir reine Dienstleister, wären wir keine Architekten mehr«
Lassen Sie uns das Gespräch mit einem Blick zurück auf Ihre Anfänge beginnen. Warum fiel die Wahl des Bürostandorts ausgerechnet auf Köln?
BD Der gemeinsame Weg begann in Wien, wo wir beide im Büro von Rob Krier arbeiteten. Das war eine spannende Zeit mit Städtebauprojekten in Italien, Frankreich, Deutschland und Spanien. Allerdings war es im Wien der 80er Jahre sehr schwierig, sich selbstständig zu machen und an Aufträge zu kommen. Luxemburg kam für uns anfangs auch nicht in Frage.
CM Burkards Heimatstadt Viersen war ebenfalls keine Option. Ich glaube, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich hatte in Brüssel und Wien gelebt und kannte Paris sehr gut. Als Großstadtmensch war das für mich einfach nicht vorstellbar, aufs Land zu ziehen. Köln konnten wir beide uns als Standort gut vorstellen, sowohl geografisch aufgrund der guten Lage zwischen Luxemburg und dem Niederrhein, als auch kulturell mit der damals noch sehr präsenten Kölner Kunstszene und der großartigen Museums- und Theaterlandschaft in der Region.
BD Unsere ersten Aufträge kamen ja dann auch aus Luxemburg und vom Niederrhein. Anfangs ist Christine noch viel zwischen Luxemburg und Köln gependelt. Gegen Ende der 90er Jahre haben wir – nach einem Intermezzo in Berlin – schließlich auch Büroräume in Luxemburg gemietet, nicht zuletzt um dort ein Team vor Ort beschäftigen zu können.
CM In Köln hatten wir zu Beginn noch aus unserer Wohnung heraus gearbeitet. Da gab es vier Zeichentische und einen großen Besprechungstisch. Als wir dann die ersten festen Mitarbeiter hatten, entschlossen wir uns, Büroräume in der Innenstadt zu mieten, auch um Wohnen und Arbeiten räumlich voneinander zu trennen.
»Bei der Zusammenarbeit mit externen Partnern zeigt sich, dass eine gute Organisation der Arbeitsprozesse nötig ist, um die gestalterische Arbeit überhaupt gewährleisten zu können«
Wie haben sich die neuen Räumlichkeiten auf das Büro ausgewirkt?
BD Jede unserer räumlichen Veränderungen hat einen Motivationsschub für das gesamte Team mit sich gebracht. Das hat die Arbeitsweise stets positiv beeinflusst und jedes Mal auch zu einem Umsatzplus geführt. Sich den Ruck zu geben, mit dem Büro und allem was daran hängt umzuziehen, war deshalb immer eine richtige Entscheidung mit positiven Folgen.
CM Um so etwas gut umzusetzen, braucht es natürlich immer eine starke Struktur und Organisation im Hintergrund.
BD Genau. Die Strukturen, die nötig sind, um die gestalterische Arbeit erst zu gewährleisten, setzt man oft wie selbstverständlich voraus. Man sieht das nicht unbedingt als Charakteristikum eines Architekturbüros an, das sich ja nach außen vorwiegend mit seinen Entwürfen und den Ergebnissen seiner Arbeit präsentiert.
CM Vor allem bei der Zusammenarbeit mit anderen Partnern merkt man aber, wie wichtig eine klare Organisation und Struktur der Arbeit ist. Das ist natürlich ein fortlaufender Optimierungsprozess, der nie ganz abgeschlossen ist.
BD Um nochmal auf den Aspekt der Bürogröße zurückzukommen: Die Entscheidung zu wachsen hat dazu geführt, dass unser größeres Team in Köln auch einen größeren Fundus an Kompetenzen bietet, auf die wir zurückgreifen können. Das versetzt uns in die Lage, auf unterschiedlichste Auftragsanfragen positiv zu reagieren. Davon profitiert auch unser Luxemburger Team. Die räumliche Distanz von 200 km spielt dabei heute kaum eine Rolle.
CM Genau das empfinde ich in Luxemburg als sehr befreiend, da ich mich dort sehr wenig um die Organisation des Tagesgeschäfts kümmern muss. Ein wenig ist es wie eine Reise zurück zu den Anfängen. Ich sitze dann mit der Skizzenrolle am Besprechungstisch und habe eine sehr direkte Arbeitsweise mit dem Team. Das nehme ich als großen Luxus wahr und als Qualität, die mich im Moment sehr motiviert.
Sie vergleichen das mit einer Reise zurück zu den Anfängen. Wie sahen diese denn konkret aus?
CM Das erste Haus, das ich realisiert habe, steht in Luxemburg und war für einen Freund, den ich von der Musikschule kannte – ein Wohnhaus auf dem Land für eine fünfköpfige Familie. Das Baugrundstück gehörte zum Bauernhof der Schwiegereltern und war von der Topografie und Ausrichtung her kompliziert. Was ich da maßgeschneidert im Dialog mit den Bauherren geschaffen habe, zählt immer noch zu meinen Lieblingsprojekten. Es stand unter dem Eindruck meiner Wiener Zeit und meines Studiums der Wiener Moderne. Es hatte viel mit Adolf Loos und seinem Ansatz des Raumplans zu tun.
BD Bei mir war das zunächst biografisch vorgezeichnet. Mein Vater ist Architekt. Sein Büro war ein typischer Ein-Mann-Betrieb, genauer gesagt Familienbetrieb. Alle haben mitgearbeitet, meine Brüder, unsere Mutter. Mit sechzehn musste ich Bauleitung machen, als die Eltern mal für eine Woche verreisten. Das waren Einfamilienhäuser für private Bauherren. Mein erstes eigenes Projekt ein paar Jahre später waren Reihenhäuser für einen Bauunternehmer, der das als Bauträgergeschäft machte. Das habe ich als unglaublich dickes Brett empfunden, das ich da bohren musste.
CM Dazu muss man sagen, dass wir zu Beginn mit einem Anspruch der Autorenschaft angetreten sind, der alleine nicht genügt, um die Erwartungen an den Beruf zu erfüllen. Wir haben sehr schnell lernen müssen, dass immer auch die Ebene der Dienstleistung in den Alltag des Berufs hineinspielt.
BD Das stimmt. Die Idee der Architektur als autonome Disziplin ist ein exklusiver Anspruch, der sich so nur selten umsetzen lässt. Der Bauherrenwille und die gesellschaftliche Relevanz unserer Arbeit spielen eine große Rolle.
»Manche Projekte entwickeln ein Eigenleben. Da heißt es auch schon mal: Loslassen und sich eingestehen, dass es einfach nicht sein sollte«
Hat sich dieser Ansatz über die Jahre gewandelt?
BD Ich finde, dass die Autorenschaft ein Wesensmerkmal der Architektur ist. Wären wir reine Dienstleister, wären wir in dem Sinne keine Architekten mehr. Wenn man mit einem starken Bauherrn zu tun hat, ist das natürlich auch ein Prozess der wechselseitigen Reibung und der gemeinsamen Findung. So gesehen gibt es kaum Routinen, aber durchaus gewisse Arbeitsprozesse, die sich im Lauf der Jahre herauskristallisiert und weiterentwickelt haben.
CM Der Anspruch an die gute Arbeit sowie unsere Grundhaltung sind über die Jahre gleich geblieben. Und das ist stark von den Werten geprägt, die wir in den Milieus, aus denen wir stammen, vorgelebt bekommen haben.
BD Es ist ein Ansatz, der ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und Sorgfalt bei der Erarbeitung und Umsetzung der Ideen und Lösungen voraussetzt.
CM Manche Projekte entwickeln allerdings ein Eigenleben. Das muss man über die Jahre lernen, auch wenn das manchmal heißt, loszulassen und sich einzugestehen: Es sollte einfach nicht sein.
»Die Wechselwirkung zwischen unseren persönlichen Handschriften und denen einzelner Mitarbeiter ist natürlich präsent«
Ganz am Anfang arbeiteten Sie zu zweit, dann wuchs das Team, aufgeteilt auf zwei Standorte, auf bis zu 30 Mitarbeiter. Wie hat sich die Zusammenarbeit über die Jahre hinweg gestaltet?
BD Selbstverständlich war das Arbeiten in einem größer werdenden Team für uns auch ein Prozess des Umdenkens. In den ersten Jahren macht man Alles selbst, alle Leistungsphasen vom Entwurf bis zur Bauleitung und Abrechnung, die Kommunikation, die wachsenden Aufgaben der Geschäftsführung. Wenn man beginnt, diese Aufgaben teilweise oder ganz abzugeben, stellt sich die Frage, ob man die Ergebnisse noch unter Kontrolle hat, ob sich das nicht verselbstständigt. Im Rückblick können wir sagen, dass die Art und Weise, wie die Kolleginnen und Kollegen im Büro Verantwortung übernommen und sich in das Unternehmen eingebracht haben, zu unserem heutigen Profil beiträgt.
CM Das wollten wir von Anfang an so. Wir haben uns oft starke Leute ausgesucht und dann Projekte akquiriert, die den Stärken unserer Mitarbeiter in die Hände spielten.
BD Diese Wechselwirkung zwischen unseren persönlichen Handschriften und denen einzelner Mitarbeiter ist natürlich präsent. Auch wenn alle Entwürfe, die nach außen gehen, unsere Zustimmung finden müssen, entstehen im Team neue Formideen. Niemand wird gezwungen »à la manière de« zu entwerfen.
Könnten Sie auf diesen Prozess der Zusammenarbeit näher eingehen?
BD Die Basis ist, dass wir als Team sehr stark auf Kooperation setzen.
CM Ja, ich finde Kooperation einen sehr guten Begriff. Wir arbeiten mit Leuten zusammen, die über genügend Freiräume verfügen, um sich zu entfalten und ihre Ideen zu entwickeln. Dadurch entstehen immer wieder neue Kompetenzen. Es ist uns gelungen, im Büro ein über die Jahre gewachsenes, breit gefächertes Spektrum an Fähigkeiten und Know-how aufzubauen. Wir verfolgen dabei keinen Kommandoansatz, bei dem ein bestimmtes, im Kopf schon vorgefertigtes Produkt verlangt wird.
»Wir stellen hohe Ansprüche an Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Kontinuität«
Was bedeutet Ihnen dieser Prozess der Kooperation persönlich?
CM Ich finde es inspirierend.
BD Immer! Die Zusammenarbeit ist ein Reifungsprozess auf allen Seiten, auch für das Büro im Ganzen.
CM Es hat auch damit zu tun, dass wir beide von unserer Grundhaltung her Gruppenmenschen beziehungsweise Familienmenschen sind. Wir sind keine Einzelkämpfer. Ich sehe es so, dass junge Mitarbeiter oft ins kalte Wasser springen und selber die richtigen Antworten finden müssen. Aber im Team haben sie immer eine Anlaufstelle, um sich zu orientieren und Rat zu holen. Es geht nicht darum, dem Einzelnen etwas aufzudrücken, sondern als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen. Das Schöne ist, dass man im Lauf der Jahre mehr Gelassenheit entwickelt, wenn man diesen Prozess lenkt. Trotzdem stellen wir hohe Ansprüche an Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Kontinuität.
»Ein tolles Feedback ist, wenn der Kunde sich bei einem neuen Auftrag wünscht, mit genau dieser Mitarbeiterin oder jenem Mitarbeiter wieder zusammenzuarbeiten«
Neue Mitarbeiter bringen neue Kompetenzen in ein Büro. Inwieweit haben sich solche Kompetenzen prägend bei Dewey Muller eingebracht?
BD Mit neuen Mitarbeitern kommen selbstverständlich Fertigkeiten und Begabungen hinzu, die wir selbst gar nicht haben. Oder die wir uns erst erarbeiten müssten. Das bringt natürlich neue Aspekte in unsere Arbeit.
CM Vor allem die digitalen Technologien betreffend haben wir heute mit Kolleginnen und Kollegen zu tun, die damit aufgewachsen sind, die mit der Vielzahl der Medien einen ganz selbstverständlichen Umgang pflegen und ein umfassendes Wissen um die Zusammenhänge mitbringen. Allerdings erwarten wir auch eine kritische Sicht auf die Möglichkeiten und Auswirkungen der IT.
BD Vorrangig geht es immer darum, unsere Kernkompetenzen im Blick zu haben und auszubauen, aber eben auch die Ränder zu stärken, also sich zu den Nachbardisziplinen hin zu professionalisieren. Die Kerndisziplinen sind aber nach wie vor das Entwerfen und Konstruieren. Der Gestaltungsanspruch steht dabei an erster Stelle. Und genau da können sich einzelne mit gestalterischer Begabung, mit Erfindungskraft, technischem Verständnis und den eigenen Erfahrungen prägend einbringen. Im Team sehe ich gerade bei schwierigen, komplexen Aufgaben Fähigkeiten zutage treten, die mir so noch nicht bewusst waren. Das fängt schon damit an, dass die richtigen Fragen gestellt werden. Da weiß ich dann: Die können das.
CM Ein Erfolgserlebnis ist immer, wenn man einen neuen Auftrag bekommt und der Auftraggeber sich wünscht, mit genau dieser Mitarbeiterin oder jenem Mitarbeiter zusammenzuarbeiten. Das ist ein tolles Feedback, auch für uns.
»Unsere Kerndisziplinen sind nach wie vor das Entwerfen und Konstruieren. Der Gestaltungsanspruch steht dabei an erster Stelle«
Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle in der Förderung der Mitarbeiterkompetenzen?
BD Wir ermutigen immer dazu, Fragen zu stellen. Wenn jemand Feedback einfordert, dann gebe ich das auch. Ich sehe das weniger als einen Vorgang, wo ich eine Prägung hinterlasse, sondern eher so, dass ich meine Erfahrung einbringe und zu Lösungswegen anrege.
CM Die Systematik, mit der wir arbeiten, ist natürlich mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Von unserer Seite entwickeln wir den Mitarbeitern gegenüber aber keine arroganten Attitüden, sondern pflegen einen Umgang auf Augenhöhe. Das setzt Ernsthaftigkeit und auch den entsprechenden Umgang der Mitarbeiter untereinander voraus.
Sehen Sie, im Vergleich zu den Anfängen von Dewey Muller, einen Unterschied in der Mentalität der jungen Berufseinsteiger, die heute in Ihr Büro kommen?
BD Grundsätzlich nicht. Die Leidenschaft für das Gestalten, für die Architektur und die Stadt sind geblieben. Die Beziehung zum öffentlichen Raum als gesellschaftlichem Wert hat heute an Bedeutung zugenommen. Die Auswirkungen der globalen Verbreitung der digitalen Medien mit ihren virtuellen Kommunikationskanälen und dem Internethandel sind enorm. In der Grundhaltung und in dem, was die Berufseinsteiger antreibt, sehe ich allerdings keine großen Unterschiede.
CM Wir wählen natürlich sehr gezielt aus für unser Team. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass jemand an die Tür klopft und zwei Stunden später an seinem neuen Arbeitsplatz sitzt. Da stimmte dann meistens vom ersten Moment an die Chemie.
BD Insgesamt beobachte ich eine größere Freiheit und mehr Selbstvertrauen im Denken junger Menschen als vor 30 Jahren.
CM Dieses Selbstvertrauen ist sehr grundlegend. Wir sind gewissermaßen noch Nachkriegskinder, was für die heutige Generation und weitestgehend auch deren Eltern nicht mehr gilt. Die sind in einer anderen emotionalen Stabilität aufgewachsen. Insgesamt, würde ich sagen, haben die jungen Leute eine gute Grundausbildung genossen und können mit den gängigen Computerprogrammen umgehen. Das Fundament für die berufliche Weiterentwicklung ist da. Ich sehe auch die Fähigkeit, konstruktiv mit Fehlern und mit Kritik umzugehen.
BD Auf ihre Art sind die jungen Leute heute sehr pflegeleicht und pragmatisch. Wir waren in dem Alter komplizierter und haben uns Kritik oftmals emotional sehr zu Herzen genommen. Ich habe den Eindruck, dass damit heute in der Tat pragmatischer umgegangen wird. Bei der momentan auf den Arbeitsmarkt drängenden Generation fällt mir aber auch ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit und Komfort auf, das wir damals so nicht hatten.
»Damals habe ich unter der Frauenfeindlichkeit in unserer Branche sehr gelitten. Heute sehe ich hier ein gemeinsames Projekt der Geschlechter«
Wie sehen Sie das Berufsbild der Architektin? Gibt es hier eine erkennbare Entwicklung?
CM Im Moment sehe ich in der Wahrnehmung von Frauen in der Architektur einen deutlichen Unterschied zwischen Luxemburg und Köln. Auch schon in den 80er und 90er Jahren hatte ich den Eindruck, dass in Deutschland im Vergleich zu Luxemburg mehr Frauen in Führungspositionen waren. Das lag vielleicht auch daran, dass ich meine ersten Berufserfahrungen in Kölner Büros machte, die von Frauen geführt wurden. Aus meiner Generation in Luxemburg sind wir gerade mal eine Handvoll. Die ersten Jahre an vorderster Front in Luxemburg habe ich als sehr belastend erlebt. Ich habe unter der Frauenfeindlichkeit in unserer Branche damals sehr gelitten. Burkard musste mich oft daran erinnern, dass es sich teilweise um strukturelle Phänomene handelt, unter denen auch Männer leiden. Heute sehe ich das als gemeinsames Projekt der Geschlechter.
BD Was dir damals neben deiner fachlichen Qualifikation zugute kam, war deine absolut sichere Mehrsprachigkeit und dass du aus einer Familie kommst, in der immer viel und gerne gestritten wurde.
CM Ja, schwache Argumente hat mir mein Vater nie durchgehen lassen. Deshalb hatte ich mir angewöhnt, den Mund erst aufzumachen, wenn ich wirklich Bescheid wusste. Um auf die aktuelle Situation zurückzukommen: In Köln erscheint mir auch heute die Arbeitswelt für Architektinnen und Stadtplanerinnen selbstverständlicher und entspannter zu sein. Das nehme ich auch in unserem eigenen Büro so wahr. Hingegen erlebe ich in Luxemburg gerade eine neue Form der Arglosigkeit. Ich beobachte eine unbewusste selektive Wahrnehmung gegenüber Frauen – zum Beispiel werden junge Mitarbeiterinnen, die mich zu Terminen begleiten, in von Männern dominierten Runden oft gar nicht wahrgenommen. Und das, obwohl sie den größten Teil der Arbeit machen, und diese Arbeit machen sie extrem gut.
»Uns hat die gesellschaftliche Dimension des Wohnens schon immer interessiert. Dazu gehört auch die Frage nach den Grenzen der Spekulation mit Grundbesitz«
Nicht nur Mitarbeiter und Räumlichkeiten haben sich über die Zeit gewandelt. Wie sehen Sie die Entwicklung der städtebaulichen Aufgaben, mit denen Sie befasst sind?
CM Es ist kein Zufall, dass wir uns trotz unserer Herkunft aus verschiedenen Ländern und Alltagskulturen in erster Linie mit dem Wohnen, mit Wohnarchitektur und Städtebau beschäftigen. Uns hat die gesellschaftspolitische Dimension des Raumes und des Wohnens schon immer besonders interessiert. Dazu gehören von Anfang an und jetzt wieder ganz akut die Bodenfrage und die Frage nach den Grenzen der Spekulation mit Grundbesitz.
BD Ich sehe das ähnlich. Wenn in der Zusammenarbeit mit den Projektentwicklern und Bauherren die Frage nach den gesellschaftlichen Auswirkungen eines Projekts abhanden kommt, finde ich das äußerst problematisch. Deshalb sind ja der Abwägungsprozess und der Interessensausgleich in der Stadtplanung so immens wichtig. Leider dauern die Verfahren und die Entscheidungen viel zu lange. Es wird zu wenig pragmatisch entschieden. Zunehmend habe ich den Eindruck, dass diese Entscheidungsmüdigkeit nur noch angstgetrieben ist, von Angst vor Formfehlern und persönlicher Verantwortung. Trotz aller Unzulänglichkeiten und gegen alle Vorurteile muss man aber auch sehen, dass es gerade in der Kommunalpolitik und in den Fachämtern der Verwaltung sehr engagierte Leute gibt, die ihre Stadt extrem gut kennen und mit ihrer Arbeit einen maßgeblichen und kontinuierlichen Beitrag zur Stadtentwicklung leisten.
CM In den letzten 10 bis 15 Jahren haben sich im stadtplanerischen Kontext neue Berufsbilder etabliert, die auch für unser Büro an Bedeutung gewonnen haben. Komplexer werdende Planungs- und Beteiligungsverfahren kommen oft ohne professionelle Moderation nicht mehr aus, also einer moderierenden Begleitung, die nicht vermengt ist mit der konkreten Planung. Auch die Suche nach neuen, privat initiierten Formen der Entwicklung von Wohnbauprojekten in Baugemeinschaften oder neu gegründeten Genossenschaften spiegeln ein zunehmendes Bedürfnis nach Teilhabe an der Gestaltung unserer gebauten Umwelt wieder. Das sind Prozesse, die uns neben unserer planerischen Arbeit in zunehmendem Maße beschäftigen. Letztendlich geht es dabei um die Nachhaltigkeit von Stadtentwicklung.
»In der Kommunalpolitik und den Fachämtern der Verwaltung gibt es engagierte Leute, die ihre Stadt extrem gut kennen und einen maßgeblichen und kontinuierlichen Beitrag zur Stadtentwicklung leisten«
Nachhaltigkeit ist momentan ja ein sehr populärer Begriff. Könnten Sie darauf etwas näher eingehen.
BD Im Moment kreist die Debatte viel um die Frage nach dem ökologischen Fußabdruck. Leider erschöpft sich dieses Verständnis von Nachhaltigkeit oft darin, ein Gebäude mit einem der international anerkannten Zertifikate zu labeln und ihm ein teures Green-Building-Design zu verpassen, das sich bestenfalls aus den technischen Funktionen der Fassade ableitet. Was aber meistens fehlt, ist die Frage nach der sozialen Nachhaltigkeit. Ich finde Fragen der Mobilität oder der Nachhaltigkeit von Arbeitswelten sehr wichtig. Zum Beispiel: Wie können wir Mobilität und unsere Siedlungsräume so organisieren, dass wir uns einen großen Teil der Wege, die wir im Alltag zurücklegen müssen, sparen können? Das heißt nicht, dass alle zu Hause bleiben müssen, sondern dass man einmal das Gesamtkonzept unserer grenzenlosen Mobilität in Frage stellt. Die Nachhaltigkeit der öffentlichen Räume und der Nutzungsmischung in den Quartieren sind weitere enorm wichtige Fragen, dringender jedenfalls, als ein Ökohaus mit viel Glas und beweglichen Verschattungselementen aus Aluminium zu bauen. Das als einzige Maxime für Nachhaltigkeit erscheint mir überhaupt nicht nachhaltig.
CM Ich sehe das ähnlich wie Burkard. Nachhaltigkeit findet in jeder zwischenmenschlichen Geste und Beziehung statt, und nicht in einer Norm oder Exceltabelle. Deshalb finde ich den Begriff mittlerweile etwas problematisch.
Wie sieht es mit dem Begriff der Qualität aus?
BD Qualität ist natürlich wichtig, aber in unserem Arbeitsbereich sehr subjektiv. Im Dialog mit dem Auftraggeber kann sich schon recht schnell eine Definition von Qualität herauskristallisieren. Aber das ist bei jeden Projekt anders.
CM Ich finde, dass Qualität sich darin ausdrückt, dass etwas Bestand hat und gut altert.
BD Vielleicht ist der Qualitätsanspruch auch, dass man jederzeit wiederkommen kann und das Gebäude immer noch seine Aufgaben für den jeweiligen Nutzer erfüllt. Alltagstauglichkeit ist für uns definitiv ein wesentliches Qualitätskriterium.
»Als Vorbilder würde ich ganz allgemein Architekten nennen, die Ernsthaftigkeit, Originalität, Unbeirrbarkeit und Ehrlichkeit mitbringen«
Das eigene Verständnis von Qualität ist ja auch immer durch Einflüsse von außen geprägt. Gibt es Architekten, die wichtig für Sie sind oder waren?
CM Als Vorbilder würde ich ganz allgemein Architekten nennen, die eine gewisse Ernsthaftigkeit, Originalität, Unbeirrbarkeit und Ehrlichkeit mitbringen. Jan Gehl ist zum Beispiel ein Architekt, dessen Denkansatz, Herangehensweise und gesunder Menschenverstand unsere eigenen Vorstellungen sehr nahe kommen.
BD Es gibt für mich schon einige Heroen, bei denen ich immer wieder gerne vorbeischaue und nachlese. Der Verführung durch Le Corbusier kann man sich nie ganz entziehen, oder der absoluten Reduktion auf das Wesentliche, dieser Klassik, die man bei Mies van der Rohe findet – um nur zwei der ganz Großen des 20. Jahrhunderts zu nennen. Aber nicht alles muss »haute cuisine« sein. Ansonsten ist es mit der Baukunst wie mit der Literatur: Der Fundus der Geschichte ist gigantisch. Die Favoriten können je nach Stimmung und Lebensphase auch schon mal wechseln. Und oft ist es der Zufall, der einem überraschende Entdeckungen zuspielt.
Gibt es auch Einflüsse für Sie, die nicht direkt aus dem Bereich der Architektur kommen?
CM Christopher Alexanders »A Pattern Language« zum Beispiel hatte für mich immer eine Wichtigkeit. Das ist kein technisches, das ist ein kulturelles Nachschlagewerk, an dessen Methodik ich mich noch heute oftmals inspiriere. Es gibt diesen Strang im Städtebau und auch in der Architektur, der einen starken humanistischen Ansatz hat und vor allem auf Beobachtungen aufbaut. Das spricht mich sehr an.
BD Ich stimme zu, dass die tagtägliche aufmerksame Beobachtung eine der wichtigsten Quellen ist. Unerschöpflich in dieser Hinsicht ist die Literatur mit ihren unzähligen Beschreibungen der »comédie humaine« und der damit verbundenen Gesellschaftskritik. Nimmt man zum Beispiel die großen Romane des 19. Jahrhunderts, dann stellt man fest: Es hat sich nicht viel daran geändert, wie sich Menschen in der Öffentlichkeit und im Privaten verhalten.
CM Ästhetisch ist Film für mich ein wichtiger Einfluss. Der französische Film der 60er und 70er Jahre war für meine visuelle Kultur prägend. Ich habe mein Gefühl für Farben, Fluchtlinien und Komposition aus meiner Vorliebe für diese Filme entwickelt. Auch wenn die Drehbücher manchmal banal sind, ein großes Stück visueller Bildung kommt für mich aus diesem Bereich.
»Die tagtägliche aufmerksame Beobachtung ist eine der wichtigsten Quellen für unsere Arbeit«
Kommen wir auf die Zukunft zu sprechen. Welche Perspektiven sehen Sie für Dewey Muller in den nächsten Jahren?
CM Mit Wohnarchitektur und Städtebau bewegen wir uns in einem Gebiet, das Herausforderungen für die nächsten 50 Jahre bietet.
BD Insofern werden die Kompetenzen, die wir als Team anzubieten haben, noch lange benötigt.
CM Ich glaube, wir haben gute Antennen, um aus nichts etwas zu machen. Die globalen Ressourcen sind knapp und werden immer knapper. Man muss auch bereit sein, den Mangel gut zu organisieren. Da sehe ich sehr große Chancen. Daraus können ganz neue Qualitäten entstehen. Die Gesellschaft gewöhnt sich zu schnell daran, aus dem Vollen zu schöpfen.
BD Für mich persönlich rückt der ländliche Raum wieder stärker in den Fokus, als Qualität und Ressource bei der Lösung der Probleme in den Ballungsräumen. Da kommt vor allem der akute Wohnungsmangel ins Spiel, dessen Überwindung uns noch über Jahre beschäftigen wird. Das beginnt an der Peripherie der Städte. Auch als überzeugter Verfechter einer Innenverdichtung der Städte muss man erkennen, dass allein darüber sich die drohende Wohnungsnot nicht abwenden lässt.
CM Wenn man wieder an die Ränder und in den ländlichen Raum geht, sind allerdings ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrsnetz und ein Umdenken bei den Versorgungsinfrastrukturen die Grundbedingungen für neue Entwicklungen. Damit befassen wir uns seit mehr als drei Jahren ganz konkret im Rahmen eines großen Siedlungsprojekts in Luxemburg. Die Leitbilder, die uns in diesem Kontext begleiten, sind weitgehend dem Konzept der polyzentrischen Stadt entnommen.
»Aus der Notwendigkeit, den Mangel zu organisieren, können ganz neue Qualitäten entstehen. Die Gesellschaft gewöhnt sich zu schnell daran, aus dem Vollen zu schöpfen«
Wie steht es grundsätzlich um den Beruf des Architekten und Stadtplaners?
BD Man neigt bei dieser Frage dazu, eher die kritischen Seiten aufzuzeigen. Es gibt aber gute Gründe, eine gesunde optimistische Grundhaltung zu wahren. Wir erleben seit einigen Jahren eine durchaus spannende Debatte, wenn es um große Stadtentwicklungsprojekte geht und um eine qualifizierte Teilhabe der Bürger an den Entscheidungsprozessen. Damit ist nicht gemeint, alle Wünsche in einen Topf zu werfen, das Ganze umzurühren und zu sehen, was dabei rauskommt. Wir sehen darin vielmehr die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Stellenwert von Architektur und Städtebau positiver ins öffentliche Bewusstsein zu heben.
CM Komplexe Prozesse zu moderieren und dabei schwierige Sachverhalte verständlich zu kommunizieren, ist eine der Stärken unseres Büros. Das ist ein Aufgabenbereich, der noch mehr Raum einnehmen wird. Und das erfolgt nie abgekoppelt von den Erfahrungen aus unserer laufenden Projektarbeit. Gute Moderation und Steuerung profitieren stets auch von der konkreten eigenen Planungserfahrung.
Wie ist Ihnen bei der Vorstellung zumute, Ihre „Firma“ irgendwann zu verlassen und die Verantwortung weiterzureichen?
CM Ich übe diese Vorstellung täglich, wenn ich das Büro verlasse, und freitags frage ich mich schon mal: Wie würdest du dich jetzt fühlen, wenn es der letzte Tag im Büro wäre? Aber so weit ist es noch nicht.
BD Darüber denke ich inzwischen regelmäßig nach, wobei der Anstoß dazu ganz klar von Christine kommt. Man muss sich früh genug mit der Frage auseinandersetzen, wie man den Stab weitergeben will. Das muss gut vorbereitet sein.
CM Solange ich niemandem auf den Keks gehe, kann ich mir vorstellen, am Rande noch für das Büro aktiv zu sein. Ich glaube aber, man muss zu gegebener Zeit einen klaren Cut machen und den Jüngeren die Verantwortung überlassen, die sich trauen, das Risiko einzugehen, den Betrieb weiterzuführen und ihm eine eigene Prägung zu geben. Ich habe kein Problem zu sagen: »So, das war’s. Ihr wisst ja, wo ihr mich findet.« Ich kann mich wunderbar beschäftigen und habe gar kein Problem mit der Idee, nicht mehr ins Büro zu gehen. Man darf die »Firma« nicht missbrauchen, um der Herausforderung des Alterns zu entgehen.
BD Das kann ich so unterschreiben. Man soll nicht aus egoistischen Gründen an der Arbeit kleben bleiben. Ich denke, wenn es mal soweit ist, lässt sich das gut daran ablesen, ob mein Beitrag noch gefragt ist und ob ich die Fitness habe, ihn auch zu leisten.
Frau Muller, Herr Dewey, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Ernest Thiesmeier ist in Luxemburg geboren und in Berlin aufgewachsen.
2013 Film- und Blogprojekt in Tokio, Japan
2013-17 Bachelorstudium Media & Communication an der Erasmus University Rotterdam
2016-17 Auslandsaufenthalt in Seoul, Südkorea
2017-18 Masterstudiengang Textual and Visual Studies am Trinity College Dublin